Freitag, 12. März 2010

Ein Käfig voller untoter Narren - Geschichte mal anders

Alles beginnt mit einer Knetfiguren-Animation: Ein von Multitalent Samuel Weiss entworfenes Männchen, Ernies gelbem Freund Bert nicht unähnlich, nimmt in einer Prospektive vorweg, was sich im Anschluss auf so fantastische Weise entfalten soll. Diesen Prolog bloß als kindlich, verspielte Sesamstraßen-Ästhetik zu rezipieren, greift möglicherweise zu kurz. Es findet mehr statt. Eine Metamorphose: Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder und sampelt ein Lied. Die “Nachrichten aus der ideologischen Antike” kommen so gar nicht angestaubt, trocken oder gar langweilig daher. Ganz im Gegenteil, ein Panoptikum der Kuriositäten entfaltet in diesem kosmischen Kabinett des Manns ohne Kopf (außergewöhnlich kopflos armfuchtelnd: Felix Kramer), der siamesischen Zwillinge (ungewöhnlich anrührend: Ute Hannig), der frisch vom weiß bekittelten Dr. Wissenschaftler a.D. (urkomisch: Lukas Holzhausen) mit Messer blutspritzend operierten Nixe mit Beinprothesen (mit gelenkiger Eleganz: Marie Leuenberger), dem musikalischen Mann so ganz ohne Eigenschaften (der ausdruckslos am Mischpult einen grandiosen Soundtrack sampelnde Stefan Schneider) und last but not least dem paradiesischen Vogel (gewohnt traumwandlerisch tirillierend, zum Heulen tragikomisch: Samuel Weiss) á la commedia dell’ arte mit Maske.
Mithilfe eines sagenhaft verspielten, spielfreudigen Ensembles gelingt Regisseur Kevin Rittberger im Malersaal ein kleines Theaterwunder. Dieses Glück, nach dem ein jeder Theatergänger so sehnsüchtig auf der Suche ist. So ein Abend mit Brüchen, wo Komik und Tragik nah beieinander liegen. Eine Inszenierung, in der es keinen klassischen medialen Konkurrenzkampf zwischen Theater, Film, Animation, Performance, Puppentheater gibt. Gemeinsam mit den Figuren schauen wir einen Film. Quasi frame in frame wird hier eine zweite Ebene erzeugt. Wir nehmen die Perspektive der Protagonisten ein und sehen eine sehr komische Parodie auf Grand Guignol. Filmisch gesprochen ein Point of View. Wir gehören dieser Truppe da vorn auf einmal mit an, werden mit hineingezogen. Ein Kunstgriff, der Kluge weiterdenkt. Da wird der “Kosmos als Kino” wörtlich genommen. Überhaupt werden alle montierten Texte als Spielball genutzt. Ein Nebeneinander entsteht, ein Füllhorn an Bildern. Bild für Bild evoziert je eigene Assoziationsmöglichkeiten und Rezeptionszugänge. You don’t have to be rich, poor, stupid, original, cool. Du kannst alles gleichzeitig sein. Alles oder nichts, Hauptsache absolut. Leben oder Tod? Du hast die Wahl. Im Theater kann sich dann eine Exekution auch schon mal unendlich oft wiederholen. Diese Gratwanderung zwischen schwarzem Humor und großer Poesie gelingt Rittberger mit großen cineastischen Bildern auf phänomenale Weise. Die Figuren vollführen einen akrobatischen Seiltanz der Andersartigen, Abartigen, Verstoßenen, Verstorbenen. Dies ist morbide, kurios, absurd, lustig, traurig, doch niemals lächerlich. Hier wird zu keiner Sekunde eine Figur verraten. Und da ist dann diese Brüchigkeit, die Naht, die sehr schnell reißen kann. Hinter der Fassade stecken womöglich eine große Leere und Einsamkeit. Der Vogel fliegt durch die Geschichte, lässt uns lachen, lässt uns fühlen. Schließlich verliert er sein Federkleid, von wissenschaftlichem Übereifer aufgesogen. Die Luft entfleucht der Geschichte. Und da stehen wir: In der nackten Realität, jeglicher Hülle beraubt. Und wir lauschen und horchen und denken und fühlen und was die Palette der menschlichen Emotionen sonst noch so im theatralischen Sortiment auf Lager hat. Bitte nochmal zurückspulen...

Julian Struck

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