Freitag, 25. Juni 2010

Ein „Tatort“ im Theater?

Tannn-öd. Der Name ruft in mir die schaurige Hänsel-und-Gretel Stimmung hervor. Wind, der sich in den Nadeln der Tannen schneidet und wehklagt, zwei Kinder einsam und hilflos darunter stehend.

Tannöd, ein Kriminalroman nach Anna Maria Schenkel.
Ein Blick in eine Fernsehzeitschrift verrät die ungemeine Fülle an Kriminalgeschichten im Programm – handelt es sich bei Tannöd nur um einen Tatort im Theater? Liegt hier ein Sitten- oder Niveauverfall vor, sodass sich das Schauspielhaus des schnöden Lockmittels „Mord und Totschlag“ bemächtigen muss, das scheinbar immer taugt, um die Neugier im Menschen zu wecken und so als Publikumsmagnet fungiert?

Eben weil man Fernsehkrimis kennt, werden einem bei diesem Stück die Vorzüge des Theaters besonders deutlich:
Man muss gar nichts sehen – in dem Moment, in dem man den Malersaal betritt, riecht man es – das Holz. Das karge Bühnenbild, dieser zusammen gezimmerte, rechteckige Hof wird mitsamt den Bewohnern anhand von Monologen in ein fahles Licht gerückt, das alles marode erscheinen lässt. Dieser Eindruck des Maroden frisst sich im Laufe des Stückes immer tiefer in das eigene Empfinden, bis die Szenerie faulig vor einem liegt, ruhig, in Stille – Totenstille.
Der Holzgeruch vervollständigt das Bild, lässt die Nase den Wald sehen. Den Hof Tannöd in einer tannenumstandenen Einöde, wie in einer Kapsel entrückt von den anderen Höfen.

Das moderne Bedürfnis, Zeuge von forensischen Untersuchungen zu sein, wird bei diesem Stück nicht befriedigt. Dieser Platzhalter für eine gut erzählte Geschichte wird durch eine Szenenaufbereitung, die in ihrer Dichte einer Sozialstudie gleicht, ohne Verlustgefühle ersetzt.
Somit steht weniger die Bluttat, als die Machtkonstellationen zwischen den Opfern und das gesellschaftliche Gefüge um die Opfer herum im Mittelpunkt.
Durch Berichte von jeder Seite wird so das Leben der Ermordeten rekonstruiert. Durch Rückblenden kommen diese selber zu Wort, sodass man entdecken kann, dass die Beiträge vom Postmann oder der Verkäuferin im Dorf auf einem wahren Kern, einem dunklen Familiengeheimnis basieren.

Diese Bandbreite von Berichterstattungen erlaubt es den Schauspielern, ihr Können in mehreren Rollen zu präsentieren und letztlich ist man dieser schauspielerischen Leistung wegen dankbar, an einem Sonntag Abend im Theater und nicht zu Hause beim Tatort gewesen zu sein.

Kathrin Dittrich

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