Montag, 15. März 2010

„Mädchen in Uniform- Wege aus der Selbstverwirklichung“ von René Pollesch

Erst nachdem sich an diesem Donnerstagabend der rote Vorhang der Hauptbühne des Schauspielhauses öffnete und schließlich wieder schloss, wussten die gespannten ZuschauerInnen des vollen Hauses welche Intention der Regisseur René Pollesch mit seiner Interpretation des Stücks „Mädchen in Uniform“, das er frei nach Christa Winsloes Mädcheninternatsroman von 1930 inszenierte, hatte.
Natürlich kann man sagen, dass die Spannung vor dem Genuss eines Theaterbesuchs und die Suche nach dem Sinn währenddessen bei jedem Theaterabend und insbesondere bei Premieren mitschwingt, doch die Arbeitsweise von Pollesch lässt eine besondere Neugierde zu.
Er ist dafür bekannt, dass er während der Proben einen offenen Arbeitsstil pflegt, spontan und kurz vor den Premieren noch Textstellen ändert oder kaum Durchläufe entstehen.
Umso aufregender und erstaunlicher sind die Ergebnisse, die eine Einheit bilden und auch ohne absolute Struktur kein Unabgerundetes oder störendes Gefühl vermitteln. Denn Irritationen und Denkanstöße waren im Stück selbst zu genüge vorhanden.

Nach der Öffnung des Samtvorhangs ist zunächst eine einfache Holzbühne als Hauptbestandteil des Bühnenbildes zu vernehmen, ein mit dem Rücken zum Publikum gewandter Mädchenchor in rosa Kleidern und bestückt mit jeweils einem Gewehr tanzt darauf. Kurz darauf wird ein Spiegel als Bühnenhinterwand sichtbar. In diesem spiegeln sich die die Gesichter der Theaterbesucher der ersten Sitzreihen des Parketts. Dadurch wurde die Trennung zwischen Bühne und Zuschauersaal geöffnet, der Raum wird durch das Bühnenbild Bert Neumanns insgesamt geweitet. Spiel und Realität mischen sich, die Gedanken beim Zuschauen sind nicht nur auf die Bühnenaktion vertieft, sondern üben immer wieder Selbstreflexion. Denn im weiteren Verlauf des Stücks wird das Publikum -insbesondere durch den Chor- immer wieder direkt angesprochen und mitunter ironisch kritisiert, was meist für Lacher sorgt und teilweise als Voyeur verurteilt. Ein von Beginn an vorhandener Running-Gag, der jedoch eher tragikomisch vermittelt wird, ist der Ausruf des Mädchens und der gleichzeitige Tadel ihrer zwei Erzieherinnen sie hätte „in die falsche Richtung gespielt“. Das Publikum ist plötzlich vor und hinter der Bühne und es gibt keinen „Backstage“ mehr.

Um die Verwirrung des Individuums in der Gesellschaft und der Suche nach dem eigenen Platz und der Frage nach der Notwendigkeit der Selbstverwirklichung geht es in diesem Stück. Der Chor scheint den Gleichschritt zu symbolisieren, die Geborgenheit im Gleichen, die Sicherheit das gleiche gemeinsam auszusprechen. Er drückt jedoch auch etwas Groteskes aus, die Gewehre passen nicht zu den rosa Kleidern die später zu Pyjamas werden. Sie sinnieren über „realistische politische Erfahrung“ und bilden einen gewissen Gegenpol zu den beiden „Erzieherinnen“ des Mädchens.
Auch aus der Ambivalenz der Figuren der drei Hauptdarstellerinnen könnte man eine gewisse Orientierungslosigkeit interpretieren- oder auch bloße Pragmatik.
Von den ursprünglichen Romankonturen ist nicht viel übrig geblieben. Es werden moderne Zwänge angesprochen bzw. assoziiert, die in unserer heutigen Gesellschaft außreichend vorhanden sind. An den Universitäten steigt der Leistungsdruck enorm, an Zeit wird gespart die Intensität des Lernens wird kaum noch berücksichtigt. So entsteht zeitweise unter den Studierenden hierzulande die verzweifelte Frage wie man sich in der Blüte seiner Jahre überhaupt entfalten kann? Und soll man das tatsächlich oder ist die Möglichkeit des Gleichschritts nicht eine Wonne der Bequemlichkeit?
Insgesamt lässt Pollesch viele Fragen offen in diesem Stück, in dem es um das Selbst, die Gesellschaft, das Theater und Freiheit geht. Doch vielleicht will er das auch. In jedem Fall wird der Zuschauer eingeladen sich zu konzentrieren und sich zwischenzeitlich vielleicht auch einen intimeren Raum zu wünschen -obgleich dann der Effekt des „in die falsche Richtung spielen“ geringer ausfallen würde. Eventuell ist es auch ein Stück, welches einen zweiten Besuch lohnt um zu erkennen, was man wie verstanden hat und Lücken zu schließen und auch zu genauer definieren zu können, was man an diesen nur ca. 60 Minuten konkret zu kritisieren hat. Alles in allem scheint vieles nämlich nicht sofort greifbar.
Es war jedoch ein Abend der Spaß gemacht hat, ohne bloß unterhalten zu werden. Die Choreografie des Chors samt Musik hat für Abwechslung gesorgt. Zudem vermittelt Sophie Rois, auch dank ihrer speziellen, schelmenhaften Stimme Lebendigkeit.
Des Publikums Beifall für das reine Frauenensemble lässt auf einen weiteren künstlerisch-eigenartigen Polleschabend schließen, den es sich anzuschauen lohnt.

Lea Toporan

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