Freitag, 12. März 2010

Vor lauter Individualität tragen wir Uniform

Es gibt ein Bild von Eduard Manet, das „Eine Bar in den Folies-Bergère“ heißt. Auf den ersten Blick ist nicht klar erkenntlich, in welcher Raumkonstellation das Individuum und die feine Gesellschaft zueinander stehen. Der Betrachter wird gelinkt, denn was Manet hier malte, war die Szene vor einer Spiegelwand. Mit diesem Wissen verschiebt sich die ganze Wahrnehmung der Betrachtung.

Wer den Weg zum Schauspielhaus wagt, um „Mädchen in Uniform“ zu sehen, wird selber Teil eines lebendigen Kunstwerkes. Auf der Bühne steht ein riesiger Spiegel, der dem Publikum sein Antlitz zeigt – doch nicht nur diesem, sondern auch Sophie Rois, die darüber völlig das Richtungsgefühl verliert. Nichts ist mehr da, wo es hingehört, wenn das Publikum auf der Bühne sitzt. Rois spielt die Fassungslose, als sie in den Glauben gerät, mit dem Rücken zum Publikum gespielt zu haben.
Sie verliert das Richtungsgefühl, der Zuschauer gewinnt ein neues Raumgefühl. Über kurz oder lang ist aber der Betrachter es, der in Anbetracht schneller, von Witz und Ernst gespickten Dialogen, bei denen schwer zu unterscheiden ist, wo Ironie anfängt und wo sie aufhört, die Orientierung verliert.

Die 60 Minuten kurze Inszenierung von René Pollesch befasst sich mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Womöglich mit der Beziehungslosigkeit zwischen beiden. Der Untertitel „Wege aus der Selbstverwirklichung“ erinnert an das Paradebeispiel zur Erklärung des Paradoxons: „Vor lauter Uniformität tragen sie Uniform“. Diese Assoziation liegt nicht fern, sobald das Stück beginnt.
Dann zieht nämlich ein Bataillon kritisch gegen die Gesellschaft und deren Trend, alles zu individualisieren, in den Krieg. Ein Bataillon von ganz ungewohnter Art. In ungewohnter Uniform. Ein Bataillon in rosa Kleidern zu roten Stöckelschuhen. Den Kampf im Chor mit Worten und ökonomisch wirkenden Choreographien auf einer Bühne austragend, hölzern wie die Gewehre des Frauenbataillons, eingerahmt von einem blau-weiß karierten Vorhang, der wie die niedlichen Gardinen in einem Puppenhaus anmutet.

Rasch kommt die Frage auf, wer hier Uniform trägt. Dem Stück nach zu urteilen, sind wir es.
"Das Publikum sitzt im Zuschauerraum in Reih und Glied, um sich ganz individuell inspirieren zu lassen", bemerkt der Chor harsch. Laut ihm verkenne das Individuum seinen Gleichschritt, jeder Versuch in die Selbstverwirklichung ist ein Weg ins Gegenteilige, in die Totalisierung.

Das Stück besteht aus Wortattacken wie diesen, die sich die Schülerin Manuela mit dem ein Einzelwesen darstellendem Chor liefert, die beiden Lehrerinnen sind Schlagwortgeberinnen. Der Zuschauer muss dem Geschehen hochkonzentriert folgen, um bei dem hohen Tempo der Dialoge und Gedankensprünge in Reih und Glied sitzend den Sinn der Worte herauszufiltern. Dass dies kein leichtes Unterfangen ist, zeigt, dass es im Nachhinein schwer zu sagen ist, an welchem Ort und zu welcher Zeit das Stück anzusiedeln ist, da sowohl veraltete Gedanken als auch hochaktueller Stoff verwoben verarbeitet werden.

So wird der Betrachter wie die Hauptdarstellerin Sophie Rois proklamieren wollen: "Moment mal! Ich hab die Richtung verloren!". Der verwirrte Geist des Zuschauers kann sich jedoch regelmäßig erholen, wenn der Chor sein militärisches Ballett zum Besten gibt und sich daran erinnern, was Sophie Rois am 25.2.2010 in einem Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt zugab: "Es gibt nichts zu interpretieren. Es wird alles gesagt. Allerdings ergeben bestimmte Sätze mit bestimmten Bildern etwas Drittes - und das schlägt dann in den Köpfen der Zuschauer Funken - wenn wir Glück haben." Folglich sollte die Devise beim Besuch dieses Theaterstückes wohl lauten: Augen und Ohren auf! Kein verkrampftes Suchen nach verstecktem Sinn und keine allzu beliebten Überinterpretierungsarien betreiben, sondern vielleicht einfach den klugen Witz genießen und trotz aller Kritik, die dort an uns als Teil der Gesellschaft geübt wird, lachen dürfen.

Kathrin Dittrich

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