Montag, 12. April 2010

Das Buch von allen Ängsten

06.04.2010, Malersaal, Deutsches Schauspielhaus in Hamburg

Es soll in diesem Text nicht um die wunderbare Inszenierung (Barbara Bürk) gehen, auch nicht um das dreiteilige Bühnenbild (Schlafzimmer, Kirche, Küche) von Anke Grot, ebenso wenig um die Musik (Clemens Sienknecht an der Orgel als Schriftsteller und Jesus). Auch die Schauspieler sollen nur kurz erwähnt werden: Konradin Kunze als 9-jähriger Junge berührt. Besonders hervorzuheben ist das intensive Spiel von Erik Schäffler als Familienvater. Ein Gewinn fürs Junge Schauspielhaus. Diese Rezension will jedoch auf etwas anderes eingehen:

Die ANGST. Die Angst der Kinder, die Angst der Eltern, die Angst vorm Lehrer, die Angst vorm Vater, die Angst vor der Kirche, die Angst vor Gott, die Angst vorm Priester, die Angst vor sich selbst, die Angst vor den eigenen Gefühlen, die Angst vor der Wahrheit, die Angst vor der eigenen Identität, die Angst vor der Vergangenheit, die Angst vor der Zukunft, die Angst vorm Infantilen, die Angst vorm Kind in sich, die Angst vor Gewalt, die Angst vor Schlägen, die Angst vor Kontrolle, die Angst vor Verlust, die Angst vor Kontrollverlust, die Angst der Tiere, die Angst vor Experimenten, die Angst der Affen, die Angst vor Tieren, die Angst vorm Animalischen, die Angst vorm Tod, die Angst vorm Dunklen, die Angst vorm Fremden, die Angst vorm Unbekannten, die Angst vor Trauer, die Angst vor der Polizei, die Angst vor Zivilcourage, die Angst vor Mut, die Angst vor der Angst.

Es gibt sie nicht, DIE Angst. Diese eine. Sie ist mannigfaltig und diffus und gerade darum so schwer zu greifen. Was tut man, wenn man Angst hat? MANN rennt weg, versteckt sich, duckt sich, hält sich fest. Woran? Wenn es sein muss an der Kirche oder besser an der Bibel, diesem Buch aller Bücher, dem "Buch von allen Dingen". Hält sich fest an dieser heiligen Schrift, befolgt sie dogmatisch. Wieso? Der Zweck heiligt die Mittel, oder die Bibel, oder irgend ein Gott, zweigeteilt in Gut und Böse, ganz BIgott. Homo Sapiens läutet homophon die Osterglocken, eine homogene Masse pilgert betend gen Bethlehem, Mekka, Rom, Vatikan und predigt ängstlich gegen die eigene Homophobie. Im Namen Gottes geht viel. Krieg, Gewalt, Angst...

ANGST. Du sollst nicht töten, du sollst deinen nächsten lieben, du sollst beten, du sollst vergeben, du sollst Kinder kriegen, du sollst nicht abtreiben, du sollst nicht morden, du sollst vernünftig sein, du darfst nicht blasphemisch sein, du darfst nicht intolerant sein, du musst gehorsam sein, du musst brav sein, du musst dich benehmen, du musst artig sein, du musst still sitzen, du musst stark sein, du musst erfolgreich sein, nicht weinen, nicht einbrechen, nicht erbrechen, nicht weich sein, Mann sein, du brauchst keine Angst haben, mein Kind. Welches Kind? Ich? Kategorisch lässt sich jeder Imperativ instrumentalisieren. Dann kommt das Krokodil. Schnapp, schnapp. Ich will dir fressen. Angst fressen Kindheit auf.
Mann kann sich auch wie Willi Wiberg beim Gang in den Keller einreden: "Ich hab keine Angst, ich hab keine Angst." Oder wie Margot, die Schwester vom kleinen Thomas, "tideldum" die Angst wegsingen. Nimm mir einfach nur die Angst, nimm den Alb aus meinen Träumen.

Es geht allerdings auch anders. Andersen schreibt Märchen, um seinen dunklen Schatten Angst zu beleuchten. Man kann sich also auch in eine Fantasiewelt flüchten. Auch der kleine Thomas "sah Dinge, die sonst niemand sah." Er schreibt sein eigenes "Buch von allen Dingen". Angst vor der Zukunft hat er keine, denn er weiß schon ganz genau: "Später werde ich glücklich."

Doch was passiert vor diesem Später? Wir schreiben das Jahr 1951. Die Angst sitzt noch tief in den traumatisierten Nachkriegsknochen. Thomas hat eine andere Angst. Angst vor den Schlägen. Angst, dass der Papa wieder die Mama schlägt. Davor, dass sein Vater wieder seine Ärmel hochkrempelt, zu ihm ins Zimmer kommt, ihn mit einem Holzlöffel auf seinen Hintern schlägt, den "Vater im Himmel für immer aus ihm herausprügelt" und ihn zwingt, hundert Mal zu wiederholen:

"Barmherziger Herr, erbarme dich über uns Sünder."


Streicheln und Quälen, das liegt oft nah beieinander. Streicheln und Quälen, so heißt auch diese Woche die Titelgeschichte in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Es geht um Tiere. Sie haben die kleinste Lobby. Auch den Kindern fehlt ein derartiger Anwalt. Sadismus oder schlimmer wohlgemeinte Fürsorge mit falschen Mitteln, kann an beiden ausgelebt werden. Tags wird gestreichelt, nachts gequält, oder umgekehrt. Eine perfide Abhängigkeit wird konstituiert im heimischen S/M-Keller der Heimlichkeiten.
Doch so wenig wie im Fall des Tierschutzes die Tierversuche, die Gitterstäbe das eigentliche Problem sind, so wenig treffen die Kellerverliese der Fritzls, Harmonie kuschelnden Vertuschungen der Ratzingers und das reformpädagogische Nicht-Wissen-Wollen der von Hentigs und Beckers den säkularen Nagel auf des Atheisten Kopf.
Hinter den verschlossenen Vorhängen der Familien spielen sich oft die Qualen ab. Es muss nicht gleich der sexuelle Missbrauch wie in Vinterbergs FEST sein. Es muss auch nicht wie bei Kuijer die körperliche Gewalt sein. Auch psychische Gewalt, Abwesenheit von Liebe und Geborgenheit können verletzen und Wunden hinterlassen.
Der kleine Thomas hat Angst vor den Fröschen, der apokalyptischen Plage. Er spielt Gott und wandelt wie die Wahrsagepriester Ägyptens Wasser in Blut. Thomas gießt rote Limonade in sein Aquarium. Auch er quält also. Wobei er nur wissen will, ob es so ist wie in der Bibel: "...würden die Fische dann sterben?" Die Katastrophe ist vorprogrammiert. Der Vatergott straft.

Ebenfalls in der ZEIT dieser Woche auf der Titelseite ein Artikel zur aktuellen Kirchen-Debatte von Patrik Schwarz. Darin kommt er zu dem Schluss: "Auch an die Not der Täter zu denken, das tut die Psychologie manchmal, eine Zeitung selten und die Polizei nie – das kann nur die Kirche." So betet Thomas' Vater: "Herrgott, vergib mir, dass ich mich dazu habe hinreißen lassen. Was kann ich nur tun, um diese Familie zu dir zu führen? Komm deinem Diener zu Hilfe, o Vater."
O Vater, was hast du getan? Warum schlägt der scharfe Messer liebende Vater den Thomas? Beim täglichen Tischgebet erscheint Jesus, nur Thomas kann ihn sehen. Jesus meint, dass der Vater ein Angsthase ist. "Er versteckt sich wie ein ängstliches Kind hinter Gottes breitem Rücken." Keine Rechtfertigung, sondern ein wichtiger Erklärungsansatz für Thomas. Will er doch hinter das Warum kommen und verstehen.
Die Not des Vaters verstehen? Geht das? Thomas glaubt nicht, er zweifelt: "Wie soll man sich hinter dem Rücken von jemandem verstecken, den es nicht mehr gibt?"
Der Vater schlägt, die Mutter schweigt. Beide handeln aus einer Angst heraus. Aus verschiedenen? Auch wenn sie sich äußerlich unterscheiden, so können die Wurzeln durchaus ähnlich gelagert sein. Dinge können totgeschwiegen, totgetrampelt, totgeprügelt, totmisshandelt werden. Dinge, also Ängste. Denn Ängste wohnen vielen Dingen inne. So könnte denn auch der Titel von Kuijers "KinderErwachsenenBuch" ab 10 ebenso "Das Buch von allen Ängsten" heißen.

"Ein Mann, der seine Frau schlägt, entehrt sich selbst." Es sind große Worte, die Guus Kuijer findet, um eine kleine Welt der großen Ängste zu erzählen. Das ist groß und ein kleines Wunder. Denn es handelt sich um ein Kinderbuch. Eigentlich. Nur dass Kuijer glücklicherweise respektlos wie einst Erich Kästner darüber hinwegsieht. So heißt es noch bevor die Geschichte überhaupt anfängt: "Nicht nur Kinder, auch Väter und Mütter, Opas und Omas und sogar der Ministerpräsident würden es in einem Rutsch durchlesen." Ich habe habe es auch in einem Rutsch durchgelesen. Und habe es wieder entdeckt: Das Kind in mir.
"Das Buch von allen Dingen", ausgezeichnet mit dem Luchs des Jahres der ZEIT, eine klare Lese-Empfehlung, fast noch mehr für die Älteren. Denn für sehr sensible Kinder könnte die Lektüre womöglich etwas zu starker Tobak sein. Was nicht heißen soll, dass Kinder unnötig geschont werden und weltfremd im Wolkenkuckucksheim aufwachsen sollten. Der pädagogische Finger, welcher im Fall Kuijer kein Zeigefinger ist, muss manchmal auch in Wunden gelegt werden. Und kann, wie bei der theatralischen Umsetzung im Malersaal, mit der nötigen Portion Humor auch heilend wirken.
Geheilt oder gar erlöst wird der Vater hier am Ende nicht. Er sitzt, heimatlos, wartend. Kein Happy-End im Kinderparadies. Es geschieht stattdessen das Unglaubliche. Ibsens Nora hätte es das Wunderbare genannt. Wenn eine Frau sich wehrt... Wenn sie aufbegehrt (siehe www.aufbegehren.com), dann ist das in den 50er Jahren vor der Emanzipation umso bemerkenswerter. Wenn sich eine ganze Familie auflehnt, dann ist es beispielhaft. Darum ist auch "Das Buch von allen Dingen" so exemplarisch und sollte Pflichtlektüre für Jung und Alt sein. Also: Lesen Sie mehr Kinderbücher! Gehen Sie ins Kinder- und Jugendtheater und lassen Sie sich in eine fremde Welt entführen, mit tropischen Fischen im Wasser. Lassen Sie sich berühren. Mich hat es eiskalt erwischt. Also, hab keine Angst.


Julian Struck

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