Punk Rock, Regie: Daniel Wahl, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 13.04.2010
„Weil ich das Lustige liebte. Deshalb wollte ich nicht auf die Schule“, heißt es in den „Memoiren eines mittelmäßigen Schülers“ von Alexander Spoerl. Berechtigte Bedenken eines Schulanfängers. Einschulung. Der Ernst des Lebens beginnt. Nicht nur das Wissen-Lernen wird nun zur Last, sondern auch das soziale Lernen, das Sich-Wehren-Lernen, das Sich-Abgrenzen-Lernen, oder eben das Mitmachen- oder Wegsehen-Lernen wird nun zur alles entscheidenden Herausforderung, um im Schulalltag bestehen und überleben zu können.
In der „Blechtrommel“ von Grass zersingt Oskar Matzerath am ersten Schultag seiner Lehrerin die Brillengläser. Ein Anschlag auf eine Lehrerin. Erste Rebellion gegen den Wahn-Sinn Schule?
Auf die Gewaltbereitschaft vieler Schüler kann nicht oft genug hingewiesen werden. Gewalt „im Kleinen“ findet ständig statt und sei es durch verbale Attacken auf sogenannte Out-Sider. Wenn keine Lehrkraft, kein Erwachsener im Raum ist, können diese Übergriffe, Eingriffe und Grenzüberschreitungen auch schon mal eskalieren. Wenn sich der Punk Rock im Kopf erruptiv entlädt, dann kann das zu einem Amoklauf führen, über den keiner redet. Über den keine Zeitung berichtet, über den nichts im Fernsehen kommt, über den kein sensationslüsterner Kerner mit Betroffenheitsmiene live aus Erfurt berichtet. Das sind dann die kleinen "Amokläufe", nur mit anderen Waffen. Kein "school shooting", sondern ein "school bashing". Was ist nun schlimmer, das shooting oder bashing? Wer vermag das zu sagen? Einfach alle abknallen, das würden vielleicht einige Schüler manchmal gern. Wenn sie könnten. Aber sie können nicht.
William in Simon Stephens gradiosem Gesellschaftsportrait "Punk Rock" konnte es. Er zieht einfach eine Waffe aus dem Getränkeautomaten. Sören Wunderlich verkörpert diesen fahrigen Grenzgänger mit all seinen Unsicherheiten kompromisslos. Das gesamte Ensemble überzeugt auf ganzer Linie. Sie reden gehetzt durcheinander, erzeugen in dieser atonalen Liebesballade eine Kakophonie der panischen Selbstflucht.
Stephens gelingt am Schluss ein Kunstgriff. Der Amokläufer erschießt sich nicht, sondern stellt sich den Fragen eines Psychiaters. Regisseur Daniel Wahl geht noch radikaler und letztlich konsequenter vor: Er streicht die Rolle des Arztes. Wir Zuschauer sitzen im Scheinwerferlicht und erwarten Antworten. Unser aller Sensationsgier und unsere Neigung zum medienwirksamen Dramatisieren und Psychologisieren werden jedoch vor den geblendeten Kopf gestoßen.
"Ich tat es, weil ich konnte." Wie? War's das schon? Mehr nicht? Das ist ja unspektakulär. Noch nicht einamal Blut ist geflossen. Wie schade, denkt sich vielleicht so mancher Theaterbesucher. Da redet man im Nachgespräch dann doch lieber über das zwischenzeitlich textilfreie Spiel des Protagonisten, ganz übersehend, dass der Schauspieler die ganze Zeit über nackt, ungeschützt agiert und sich immer mehr entblöst. Keiner lässt sich gerne beim eigenen Voyeurismus ertappen. Es wird aufgeräumt mit dem Zerreden der Experten. Diesen nach Amokläufen hilflosen Reflexen von Medien und Politik. Bloß es zu fassen kriegen, dieses Phänomen. Präventivmaßnahmen finden. Suche nach Beruhigung, Sicherheit.
Wo fühlen Sie sich noch sicher? Im Supermarkt, im Büro, auf der Straße, in der Schule? Reden wir über unsere Gesellschaft, über uns.
Viele haben ihn in sich, diesen Amok im Kopf. Computerspiele müssen dies nicht unbedingt verstärken, wenn Realität und virtuelle Welt noch getrennt werden können. Der Kommunikationsfähigkeit zuträglich sind sie jedoch ohne Frage nicht. Um sich gegenseitig abzuballern, muss man sich schließlich nicht verbal artikulieren können. Da muss man sich nicht mit sich selbst beschäftigen.
Manfred Dworschak schreibt diese Woche im Magazin DER SPIEGEL (Nr.15; 12.4.10): "Viele Kinder erleben die Schule in dieser Zeit als Anstalt von spukhafter Unwirklichkeit. Sie verziehen sich (...) in die innere Emigration." Wie der kleine Oskar, sich einfach verkriechen, weglaufen, wegrennen. Eine fataler Rückzug.
Zeit für Kindheit bleibt kaum. Die wenigsten Erwachsenen (dazu gehören leider auch Lehrer) scheinen das Kind in sich bewahrt zu haben. Erich Kästner schreibt in seiner „Ansprache zum Schulbeginn“: „Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.“
Viele hochtrabende, theoretische Texte werden gelesen, aber werden sie auch wirklich im Kern verstanden? In Diskussionen soll mit den Schülern versucht werden, die Gruppendynamik (wie es so schön heißt) zu steigern und zu harmonisieren. Viele Fremdwörter kommen da zum Einsatz und einige Schüler werden dann sogar zu Mediatoren, zu Streitschlichtern ausgebildet. Klingt nach einer fertigen Problembekämpfung auf Rezept: Prädikat pädagogisch besonders wertvoll; ist aber eben häufig nur Theorie. In der Praxis wird dann tüchtig weiter ausgegrenzt.
Die Schulwirklichkeit wird im späteren Leben meist als wirklich und eben wahr wahrgenommen, ist aber nur noch eine Fußnote in der Erinnerung. Später kann man sich immer alles schön reden und glorifizieren. Die Selbstbeweihräucherung und das krampfhaft postulierte Wir-Gefühl verhindert geradezu eine kritische Hinterfragung und Selbstreflexion, die einen Schritt nach vorn ermöglichen und einen neuen Weg nach vorn, raus aus dem Dilemma ebnen würde. Kein Wunder also, wenn vielleicht einige Zuschauer "Punk Rock" als übertrieben wahrnehmen.
Der Blick des anderen als intersubjektive Spiegelung.
Im Anderen kann man auch sich selbst erkennen. Davor haben viele Angst.
Der Außenseiter, der Buhmann der Familie wird gedemütigt, ausgegrenzt, gemobbt. Die Mutter sieht dies, ignoriert es aber, deckelt es zu, damit ja kein Fleck aufs weiße Unschuldshemd der Familie kommt. Zusammenhalten muss die Sippe, denn sonst bricht sie zusammen, verliert ihren Halt. Wenn nicht eingegriffen wir, kann es schnell zu einem Game-Over führen.
In Baden-Württemberg startet demnächst ein vom Entwicklungspsychologen Herbert Scheithauer konzipiertes Schulprojekt, das Lehrer für das Thema sensibilisieren soll. In der ZEIT Nr. 16 vom 15.4.10 meint Scheuthauer, dass ein schärferes Waffengesetz zwar sinvoll wäre, jedoch vor allem an einem anderen Punkt angesetzt werden müsste: "Wenn ein Schüler sich isoliert, dann sollte das ein Grund sein, nicht wegzugucken, sondern einzugreifen. Nicht, um einen potenziellen Amokläufer zu erkennen, sondern einen jungen Menschen, der im sozialen Umfeld Schule dringend Unterstützung braucht."
Hätte William in "Punk Rock" nicht auch derartige Unterstützung gebraucht? Ob dies seine Tat hätte verhindern können? Der Zuschauer bleibt mit einem leeren Gefühl und dieser offenen Frage zurück. Doch das ist das Leben. Und das Leben stellt viele Fragen. Antworten muss jeder für sich selbst finden.
„Weil ich das Lustige liebte. Deshalb wollte ich nicht auf die Schule“, heißt es in den „Memoiren eines mittelmäßigen Schülers“ von Alexander Spoerl. Berechtigte Bedenken eines Schulanfängers. Einschulung. Der Ernst des Lebens beginnt. Nicht nur das Wissen-Lernen wird nun zur Last, sondern auch das soziale Lernen, das Sich-Wehren-Lernen, das Sich-Abgrenzen-Lernen, oder eben das Mitmachen- oder Wegsehen-Lernen wird nun zur alles entscheidenden Herausforderung, um im Schulalltag bestehen und überleben zu können.
In der „Blechtrommel“ von Grass zersingt Oskar Matzerath am ersten Schultag seiner Lehrerin die Brillengläser. Ein Anschlag auf eine Lehrerin. Erste Rebellion gegen den Wahn-Sinn Schule?
Auf die Gewaltbereitschaft vieler Schüler kann nicht oft genug hingewiesen werden. Gewalt „im Kleinen“ findet ständig statt und sei es durch verbale Attacken auf sogenannte Out-Sider. Wenn keine Lehrkraft, kein Erwachsener im Raum ist, können diese Übergriffe, Eingriffe und Grenzüberschreitungen auch schon mal eskalieren. Wenn sich der Punk Rock im Kopf erruptiv entlädt, dann kann das zu einem Amoklauf führen, über den keiner redet. Über den keine Zeitung berichtet, über den nichts im Fernsehen kommt, über den kein sensationslüsterner Kerner mit Betroffenheitsmiene live aus Erfurt berichtet. Das sind dann die kleinen "Amokläufe", nur mit anderen Waffen. Kein "school shooting", sondern ein "school bashing". Was ist nun schlimmer, das shooting oder bashing? Wer vermag das zu sagen? Einfach alle abknallen, das würden vielleicht einige Schüler manchmal gern. Wenn sie könnten. Aber sie können nicht.
William in Simon Stephens gradiosem Gesellschaftsportrait "Punk Rock" konnte es. Er zieht einfach eine Waffe aus dem Getränkeautomaten. Sören Wunderlich verkörpert diesen fahrigen Grenzgänger mit all seinen Unsicherheiten kompromisslos. Das gesamte Ensemble überzeugt auf ganzer Linie. Sie reden gehetzt durcheinander, erzeugen in dieser atonalen Liebesballade eine Kakophonie der panischen Selbstflucht.
Stephens gelingt am Schluss ein Kunstgriff. Der Amokläufer erschießt sich nicht, sondern stellt sich den Fragen eines Psychiaters. Regisseur Daniel Wahl geht noch radikaler und letztlich konsequenter vor: Er streicht die Rolle des Arztes. Wir Zuschauer sitzen im Scheinwerferlicht und erwarten Antworten. Unser aller Sensationsgier und unsere Neigung zum medienwirksamen Dramatisieren und Psychologisieren werden jedoch vor den geblendeten Kopf gestoßen.
"Ich tat es, weil ich konnte." Wie? War's das schon? Mehr nicht? Das ist ja unspektakulär. Noch nicht einamal Blut ist geflossen. Wie schade, denkt sich vielleicht so mancher Theaterbesucher. Da redet man im Nachgespräch dann doch lieber über das zwischenzeitlich textilfreie Spiel des Protagonisten, ganz übersehend, dass der Schauspieler die ganze Zeit über nackt, ungeschützt agiert und sich immer mehr entblöst. Keiner lässt sich gerne beim eigenen Voyeurismus ertappen. Es wird aufgeräumt mit dem Zerreden der Experten. Diesen nach Amokläufen hilflosen Reflexen von Medien und Politik. Bloß es zu fassen kriegen, dieses Phänomen. Präventivmaßnahmen finden. Suche nach Beruhigung, Sicherheit.
Wo fühlen Sie sich noch sicher? Im Supermarkt, im Büro, auf der Straße, in der Schule? Reden wir über unsere Gesellschaft, über uns.
Viele haben ihn in sich, diesen Amok im Kopf. Computerspiele müssen dies nicht unbedingt verstärken, wenn Realität und virtuelle Welt noch getrennt werden können. Der Kommunikationsfähigkeit zuträglich sind sie jedoch ohne Frage nicht. Um sich gegenseitig abzuballern, muss man sich schließlich nicht verbal artikulieren können. Da muss man sich nicht mit sich selbst beschäftigen.
Manfred Dworschak schreibt diese Woche im Magazin DER SPIEGEL (Nr.15; 12.4.10): "Viele Kinder erleben die Schule in dieser Zeit als Anstalt von spukhafter Unwirklichkeit. Sie verziehen sich (...) in die innere Emigration." Wie der kleine Oskar, sich einfach verkriechen, weglaufen, wegrennen. Eine fataler Rückzug.
Zeit für Kindheit bleibt kaum. Die wenigsten Erwachsenen (dazu gehören leider auch Lehrer) scheinen das Kind in sich bewahrt zu haben. Erich Kästner schreibt in seiner „Ansprache zum Schulbeginn“: „Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.“
Viele hochtrabende, theoretische Texte werden gelesen, aber werden sie auch wirklich im Kern verstanden? In Diskussionen soll mit den Schülern versucht werden, die Gruppendynamik (wie es so schön heißt) zu steigern und zu harmonisieren. Viele Fremdwörter kommen da zum Einsatz und einige Schüler werden dann sogar zu Mediatoren, zu Streitschlichtern ausgebildet. Klingt nach einer fertigen Problembekämpfung auf Rezept: Prädikat pädagogisch besonders wertvoll; ist aber eben häufig nur Theorie. In der Praxis wird dann tüchtig weiter ausgegrenzt.
Die Schulwirklichkeit wird im späteren Leben meist als wirklich und eben wahr wahrgenommen, ist aber nur noch eine Fußnote in der Erinnerung. Später kann man sich immer alles schön reden und glorifizieren. Die Selbstbeweihräucherung und das krampfhaft postulierte Wir-Gefühl verhindert geradezu eine kritische Hinterfragung und Selbstreflexion, die einen Schritt nach vorn ermöglichen und einen neuen Weg nach vorn, raus aus dem Dilemma ebnen würde. Kein Wunder also, wenn vielleicht einige Zuschauer "Punk Rock" als übertrieben wahrnehmen.
Der Blick des anderen als intersubjektive Spiegelung.
Im Anderen kann man auch sich selbst erkennen. Davor haben viele Angst.
Der Außenseiter, der Buhmann der Familie wird gedemütigt, ausgegrenzt, gemobbt. Die Mutter sieht dies, ignoriert es aber, deckelt es zu, damit ja kein Fleck aufs weiße Unschuldshemd der Familie kommt. Zusammenhalten muss die Sippe, denn sonst bricht sie zusammen, verliert ihren Halt. Wenn nicht eingegriffen wir, kann es schnell zu einem Game-Over führen.
In Baden-Württemberg startet demnächst ein vom Entwicklungspsychologen Herbert Scheithauer konzipiertes Schulprojekt, das Lehrer für das Thema sensibilisieren soll. In der ZEIT Nr. 16 vom 15.4.10 meint Scheuthauer, dass ein schärferes Waffengesetz zwar sinvoll wäre, jedoch vor allem an einem anderen Punkt angesetzt werden müsste: "Wenn ein Schüler sich isoliert, dann sollte das ein Grund sein, nicht wegzugucken, sondern einzugreifen. Nicht, um einen potenziellen Amokläufer zu erkennen, sondern einen jungen Menschen, der im sozialen Umfeld Schule dringend Unterstützung braucht."
Hätte William in "Punk Rock" nicht auch derartige Unterstützung gebraucht? Ob dies seine Tat hätte verhindern können? Der Zuschauer bleibt mit einem leeren Gefühl und dieser offenen Frage zurück. Doch das ist das Leben. Und das Leben stellt viele Fragen. Antworten muss jeder für sich selbst finden.
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